10

Als sie den Gartenweg zu Mrs Carrs Haus hinaufgingen, saß Nick auf der Türschwelle. »Gracie!« Misstrauen brandete in ihr auf. Er nannte sie nur »Gracie«, wenn er sich etwas borgen oder eine Anleihe bei ihr aufnehmen wollte.

»Ich habe kein Geld bei mir, Nick«, sagte sie.

Er warf verlegen einen Blick zu Charlie und Gavin. »Ich wollte dich um keines bitten.«

Jetzt packte sie Angst. »Nick - hast du etwas angestellt? Ist das Haus abgebrannt oder so was?«

»Wie kommst du denn darauf?«, empörte er sich. »Du hast dich seit ein paar Tagen nicht blicken lassen, und ich wollte mich nur vergewissern, dass du okay bist.«

Sie hätte ihm gern geglaubt, aber diese Version konnte unmöglich der Wahrheit entsprechen. Es mochte sein, dass er irgendwann vorgehabt hatte, nach ihr zu sehen, doch er hätte sich nie dazu aufgerafft, wenn ihn nicht etwas dazu getrieben hätte. Etwas mehr Nickbezogenes.

Neben ihr zischte Charlie: »Ist er das? Ihr Mann?«

»Nein, nein.«

»Ihr Mann ist in Florida«, erklärte Nick.

»Ja. Ist das nicht ein Jammer?«, seufzte Charlie. Nick schaute sie verdutzt an.

»Ich habe ihr gesagt, sie soll versuchen, die Sache freundschaftlich zu regeln«, erläuterte Charlie Nick. »Aber das fällt schwer, wenn einer so ein richtiger Mistkerl ist.«

»Was ...«, begann Nick.

»Wenn man ihm am liebsten ein langes Messer in den Bauch rammen und es darin umdrehen möchte, bis er quiekt wie ein Schwein«, fuhr Charlie fort. »Oder ihm mit bloßen Händen seine Kronjuwelen abreißen und in einen Bottich mit Säure schmeißen!«

Nick fuhr entsetzt zurück. Charlie brach wieder in Tränen aus.

Graces Hoffnungen auf ein Abschiedstreffen mit Adam verflüchtigten sich zusehends, und so sagte sie zu Nick: »Wie du siehst, geht es mir gut. Es ging mir nie besser! Und ich komme heute Nachmittag nach Hause. Also ...« Wie sollte sie das höflich formulieren? »...kannst du in aller Ruhe zu deinen Computerlehrbüchern zurückkehren. Wie geht es denn voran?«

Er scharrte unbehaglich mit den Füßen. »Kriege ich nicht mal eine Tasse Tee?«

»Nein.«

»Nein?«

»Nein. Ich kann das nicht machen. Es ist doch nicht mein Haus.«

»Oh, das hätten Sie sagen sollen!«, mischte Charlie sich ein. »Dann werden wir auch nicht bleiben.«

»Sie sind zum Tee eingeladen?« Nick schaute Charlie tief gekränkt an.

Grace hob gottergeben die Hände. »Okay, okay! Tee für alle. Warum nicht?«

Sie ging voran ins Haus, und dann saßen die drei Besucher schweigend am Küchentisch und betrachteten die an der Wand aufgereihten Porzellanenten, während Grace in großen Bechern Tee servierte und eine abgelaufene Cokebüchse für Gavin fand. »Ach. das tut gut«, seufzte Charlie.

»Sie sagen es«, pflichtete Nick ihr bei. »Ich habe seit zwei Tagen keinen Tee getrunken.«

Grace schaute ihn an. »Warum denn nicht?«

Wieder scharrte er mit den Füßen. »Ach, ich wollte einfach kürzer treten, weniger Koffein, du weißt schon ...«

»Nick!«

»Okay! Es gibt da ein ... ein Problem mit dem Strom.«

»O Gott!«

»Es war nicht meine Schuld! Er war plötzlich weg! Und die Leute vom E-Werk wollten gleich kommen, aber sie waren noch immer nicht da.«

»Na großartig!« Jetzt käme sie also in ein Haus ohne Strom zurück.

Charlie holte eine Schachtel Silk Cut aus ihrer Handtasche, die extralangen. »Möchten Sie?«, fragte sie Nick.

»Ich sollte eigentlich nicht«, erwiderte er und nahm eine. »Ich bin nämlich Sänger, wissen Sie. Na ja - ich war es.«

Wie immer tat das seine Wirkung. Grace gab alle Hoffnung auf, die Gesellschaft loszuwerden, als sie den Blick von Charlie und Gavin sah. Niemand hatte Grace jemals so angeschaut. Außer Adam.

»Ich wusste es!«, rief Charlie. »Nicht, dass Sie Sänger sind aber ich kannte Ihr Gesicht!«

Nick beugte sich vor. »Tatsächlich?«

»Als ich Sie sah, dachte ich mir gleich, das ist ein Prominenter!«

»Sie kennt alle Prominenten aus den Zeitschriften«, erklärte Gavin stolz. »Einmal hat sie an einer Tankstelle Adam Ant erkannt - stimmt‘s Mum? Sogar ohne Make-up.«

»So prominent bin ich nicht«, gestand Nick, setzte jedoch eilends hinzu: »Zumindest nicht in England. Obwohl wir in den Neunzigern da drüben ziemlich bekannt waren. 1991, um genau zu sein. Wann kam ›Dead Dingos‹ in die Charts, Grace?«

»In der ersten Septemberwoche.« Sie musste sich sehr beherrschen, um nicht anzumerken, dass die Scheibe in der zweiten Septemberwoche bereits wieder rausgeflogen war.

»Ich glaube nicht, dass ich den Song kenne ...«, sagte Charlie nachdenklich.

»Er war eine Auskoppelung von unserem Album Hell and Back. Im Stil der Stones. Aber echter, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Der Trick funktionierte. Mit der Erwähnung der Stones schaffte er es, jeglichen Zweifel an seinem Status als Rocklegende zu zerstreuen.

»Kennen Sie Mick Jagger?«, erkundigte sich Gavin aufgeregt.

»Nicht näher«, antwortete Nick in wundervoll gespielter Bescheidenheit. »Aber ich habe ihn mal auf einer Party getroffen. Er ist ein netter Bursche. Ganz normal.«

»Charlie hat das Haus nicht gefallen«, sagte Grace laut. »Franks Haus, meine ich.« Vielleicht würde Charlie Nick ja daraufhin von Ihrer, Graces, Tapferkeit erzählen und davon. dass sie ein leuchtendes Beispiel für die Frauen dieser Welt darstellte. Vielleicht würde Adam ja gerade rechtzeitig hereinkommen, um es zu hören.

»Oh, bitte reden wir nicht mehr davon!« Charlie stieß ein kleines I›achen aus und wandte sich wieder Nick zu. »Sind Sie je im Wembley aufgetreten?«

Grace, die mit ihrem Teebecher am Spülbecken lehnte, spürte sich blass werden. Sogar das Seidenkleid schien seinen Schimmer zu verlieren. Sie fühlte sich in ihre Teenagerzeit zurückversetzt, als sie im Hintergrund herumlungerte, während Nick mit seinen Freunden probte und sie nur wegen der Einstellung der Bässe ansprach oder auf die Möglichkeit einer kleinen Erfrischung. Nick lehnte sich zurück und zog nachdenklich an seiner Zigarette. »Im Wembley? Lassen Sie mich nachdenken...«

»Ihr seid nie im Wembley aufgetreten«, sagte Grace laut und deutlich. »Du bist überhaupt noch nie im Wembley gewesen. Und Mick Jagger hatte die Party schon verlassen, als du ankamst.«

Sie stieß sich vom Spülbecken ab und hörte im Hinausgehen, wie Nick seine Ehre zu retten versuchte, indem er behauptete, dass er Mick auf einer anderen Party getroffen hatte, dass es schwierig sei, die ganzen Feten auseinander zu halten.

Grace stieg in den ersten Stock hinauf, zog ihr Bett ab, faltete die Decken ordentlich zusammen und legte sie in den Schrank. Dann hängte sie Mrs Carrs Seidenkleid weg und zog wieder ihr sportliches Outfit an, das inzwischen auf der Leine getrocknet war. Im Bad machte sie die Hände nass und strich damit über ihre Haare. Im Schränkchen fand sie Puder und überdeckte damit den Glanz auf ihrer Nase. Als sie damit fertig war, war ihr Ausnahmezustand ihr nicht mehr anzusehen. Eine adrette, langweilige Frau schaute ihr aus dem Spiegel entgegen. Eine Allerweltsperson.

»Wem versuchst du etwas vorzumachen?«, fragte sie ihr Spiegelbild. Sie war eine vierunddreißigjährige Mutter mit ersten Fältchen und einem Job bei einem Immobilienmakler. Sie konnte natürlich barfuß in einem verschlafenen Städtchen auf dem Land herumlaufen und so tun, als sei sie eine CIA-Agentin ohne irgendeine Bindung, doch am Ende musste sie in ihr sorgfältig aufgebautes Leben zurückkehren, ein Leben, in dem es viele Menschen gab, die Verpflichtungen bedingten, und in das sie viele Emotionen gesteckt hatte, und daraus auszubrechen würde nur zu Kummer führen. Und außerdem hatte sie nichts Besseres in Aussicht.

Als sie mit den benutzten Handtüchern aus dem Bad kam sie würde noch eine Maschine laufen lassen müssen -, stand Adam vor ihr.

»In der Küche sitzen fremde Leute«, beschwerte er sich.

»Ja.«

»Sie lachen und rauchen und trinken Bier.«

»Ich habe ihnen kein Bier gegeben.« Das musste Nick irgendwo gefunden haben. Er war in dieser Beziehung der reinste Spürhund.

Adam musterte sie von oben bis unten. »Warum hast du wieder diese Sachen an?« Es war ihm anzusehen, dass sie ihm nicht gefielen.

»Weil ich mich nun mal so anziehe«, erwiderte sie gelassen.

»Deine Sommersprossen sind weg!«, empörte er sich. »Was hast du da für Zeug im Gesicht?«

»Make-up. Würde es dir etwas ausmachen, jetzt zu gehen?«

»Was?« Er schaute sie fassungslos an.

»Ich muss das Haus in Ordnung bringen, bevor Mrs Carr morgen kommt«, erklärte sie nüchtern. »In Pensionen ist es üblich, um elf Uhr vormittags die Zimmer zu räumen. Darüber bist du schon weit hinaus.«

»Lass den Blödsinn, Grace. Ich dachte, wir hätten eine Vereinbarung.«

»Hatten wir die?« Sie bemühte sich um eine neutrale Miene. »Nun, ich kann sie leider nicht einhalten, weil ich nach Dublin zurückmuss.«

Er schaute sie lange schweigend an und sagte dann: »Wir haben noch nichts Illegales getan.« Sie spürte ihre Wangen unter dem Puder heiß werden.

»Natürlich haben wir das nicht! Das wollte ich auch nicht andeuten! Ich meine, wir haben uns nur geküsst! Ich meine nicht ›nur‹ ...« Sie rang nach Luft. »Ich will damit sagen, dass Küssen in diesem Land nichts Illegales ist. In anderen Ländern ist das sicherlich anders - in manchen Kulturen wird es nicht gern gesehen, wenn Verheiratete Sex mit Partnern haben, die nicht ihre sind -, aber in Irland gibt es da von oben keine Beschränkungen. Moralisch gesehen ist die Sache nicht ganz einwandfrei, aber vom Gesetz her sind wir im grünen Bereich.«

Adam schaute sie verdutzt an. »Ich sprach eigentlich von Martine, Joey und mir.«

»Oh. Oh!«

Das durfte nicht wahr sein! Graces Knie wurden weich.

Man stelle sich das vor! Da schwafelte sie etwas von Sex mit ihm - sie hatte wirklich und wahrhaftig das Wort Sex ausgesprochen! und er hatte von etwas gänzlich anderem geredet. Er musste ja denken, sie sei besessen von ihm! Aber er schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein. Sie war sich nicht sicher, ob sie das als Erleichterung empfand oder kränkte.

»Wir befinden uns noch in der Planungsphase«, erläuterte er

»Von etwas... Illegalem?«, fragte sie. Das Wort war so köstlich, enthielt so viel Gefahr und Nervenkitzel, dass sie ihr Motel-Gefühl erwachen spürte. (Allmählich fragte sie sich, ob es an der Zeit war, sich professionelle Hilfe zu holen.)

»Na ja ... ich denke schon«, gab er zu. »Es ist die einzige Möglichkeit, die Message rüberzubringen. Glaube ich zumindest. Was Martine angeht...« Er verzog abwertend den Mund.

»Welche Message?«, flüsterte Grace.

»Du meinst, du hast uns im Café nicht zugehört?«

»Nein.« Sie dachte an seine Gewohnheit, ständig die Schuhe auszuziehen. »Wir reden hier doch nicht über Religion, hoffe ich.«

»Guter Gott, nein!« Er schaute sie beunruhigt an. »Sehe ich vielleicht wie so ein durchgeknallter Jesusapostel aus?«

»Nein, nein.« Im Moment sah er wie ein Leckerbissen aus. Der Fußmarsch aus der Innenstadt hierher in der Hitze hatte seiner Haut einen feuchten Glanz verliehen, mit dem andere Männer schlicht unappetitlich verschwitzt gewirkt hätten. Bei ihm weckte der Schweißfilm den Wunsch in ihr, an ihm zu lecken wir an einem Eis am Stiel.

»Also - worum geht es?«, wollte sie wissen.

Er trat dichter an sie heran. Sein Atem roch nach Kaffee und Minnies Apfelstreuselkuchen. »Das ist eine hochbrisante Information.«

Illegal und hochbrisant. Sie begann vor Aufregung zu hecheln wie ein Hund. »Du kannst mir vertrauen«, brachte sie mühsam heraus.

Er nahm sie bei der Hand - sie wäre fast ohnmächtig geworden -, führte sie über den Flur in sein Zimmer und schloss mit dramatischem Nachdruck die Tür hinter ihnen. Sie dachte, er würde sie küssen, hob ihm ihr Gesicht entgegen und hoffte inständig, dass ihre Lippen durch die Hitze nicht zu spröde und trocken geworden waren. Er ließ sie stehen und begann sich eine Zigarette zu drehen.

»Willst du auch eine?«

»Ah ... nein, danke.«

»Klug von dir. Ich wünschte, ich hätte nie damit angefangen«, sagte er düster.

Die Luft war raus, die Situation entzaubert. In Grace stieg der Verdacht auf, dass sein illegales Unterfangen eine Enttäuschung für sie sein würde. Was könnten ein paar Rucksacktouristen auch schon Böses anrichten? Würde er ihr irgendeinen Kreditkartentrick gestehen? Oder einen gerissenen Plan, um die Irish Rail zu betrügen? »Adam - hat das, was du mir da erzählen willst, vielleicht etwas mit Banken zu tun?«, fragte sie hoffnungsvoll. Vielleicht könnte sie ihm ja ein paar Tipps geben. Immerhin hatte sie bereits Diebstahlserfahrung.

Er stieß ein bellendes Lachen aus. »Kapitalistin bis ins Mark, was?«

»Ach, halt den Mund.« Sie wandte sich zum Gehen.

»Grace! Warte!« Er schien überrascht von ihrer Reaktion. »Es tut mir Leid, okay?«

Sie drehte sich zu ihm um. »Es tut dir überhaupt nicht Leid. Immer stellst du mich als bedeutungslosen Menschen hin, der ein bedeutungsloses Leben führt!« Der Gipfel der Beleidigung war, sie in sein Zimmer mitzunehmen und, anstatt über sie herzufallen, sich in aller Ruhe eine Zigarette zu drehen!

»Ich habe nie gesagt, dass du bedeutungslos seist«, protestierte er.

»Dann eben selbstsüchtig. Gierig. Nur weil ich nicht das Studium geschmissen habe, um meinen Zorn über die Missstände zu dokumentieren, und nicht bei jeder Gelegenheit gegen das System aufbegehre. Nur weil ich nicht mit einer Trendfrisur herumlaufe und mich über Leute mokiere, die Häuser verkaufen!«

»Du verkaufst Häuser?« Er schaute sie an, als hätte sie ihm gerade eröffnet, dass sie auf Schulhöfen Crack an Kinder verhökerte.

»Ja!«, bestätigte sie mit hoch erhobenem Kopf und fester Stimme. »Hunderte! Tausende! Was hast du denn gedacht? Dass ich einen reichen Mann habe, der zu Hause sitzt und mich finanziert, während ich mir in Frühstückspensionen die Zeit vertreibe?« Offensichtlich hatte er genau das angenommen. »Wie jeder andere Mensch auf dieser Welt - na ja, abgesehen von dir - habe ich einen Job. Ich verdiene Geld. Wovon das meiste natürlich für die Renten anderer Leute draufgeht. Und für Arbeitslosenunterstützung und Krankenhausbetten für alte Frauen mit Fußverletzungen.«

»Es war deine Entscheidung, Grace.«

War es das? Ja, wahrscheinlich. Jedenfalls gab es niemand anderen, den sie dafür verantwortlich machen konnte.

»Entschuldige, dass ich nicht für meine Prinzipien lebe, Adam. Ich kann es mir einfach nicht leisten.«

»Meinst du, ich kann das?«, fuhr er sie an. »Ach, geh nach Hause, Grace.«

»Was?«

»Steig in deine Angeberkutsche da draußen und geh in dein Steuerzahlerleben zurück. Da wolltest du doch sowieso grade hin, als ich reinkam und dich abfing, stimmt‘s?«

»Du hast mich nicht ›abgefangen‹. Ich hätte auf dich gewartet.«

»Lügnerin. Wahrscheinlich hättest du dich drüben bei Frank versteckt, bis ich weg gewesen wäre, und dann hier für Mrs Carr klar Schiff gemacht.«

Graces Wangen wurden warm. Der Gedanke war ihr gekommen. »Ich wollte dir eine Nachricht hinterlassen.« Das wollte sie wirklich.

»Eine Nett-dich-kennen-gelernt-zu-haben-Nachricht?«

»Ahhh ...«

»Eine Verpiss-dich-Nachricht, möchte ich wetten.« Seine übliche Coolness war verpufft, und seine Sonnenbräune sah nicht mehr so gesund aus.

»Oh, Adam«, sagte sie. »Ich fand einfach, dass es keinen Sinn hätte, sich noch mal zu treffen. Auf diese Weise ist die Sache sauberer.«

»Sauberer.«

»Ich dachte ...«

»Sauberer? Was zum Teufel soll das heißen?«

»Okay, vielleicht hätte ich ein anderes Wort wählen sollen.« Sie holte tief Luft. »Hör zu. Was gestern Abend passiert ist, war...«

»Bitte sag jetzt nicht, dass es ›nett‹ war.« Er nahm einen so tiefen Zug aus seiner Zigarette, dass sie ernsthaft um seine Lungen fürchtete.

»Wir waren allein. Wir tranken Wein. Es passierte. Ich meine nur, dass es besser ist, die Dinge nicht noch mehr zu komplizieren.«

Er stieß in einem langen Strom Rauch aus und sah sie durch den weißen Nebel an. »Bloß nichts riskieren, was? Ein Kuss ist gerade noch drin, aber mehr würde Probleme machen, und das wollen wir nicht, stimmt‘s?« Sie antwortete nicht.

»Was ist los, Grace? Warum hast du solche Angst davor, dich auf jemanden einzulassen? Fürchtest du, dass jemand vorbeikommt und dir auf die Finger haut, weil du dein Leben genießt?«

»Wie kommst du darauf, dass ich mich auf dich einlassen möchte?«

Sie hatte ihn damit in seine Schranken weisen wollen. Es gefiel ihr nicht, wie sie sich in seiner Gegenwart fühlte. Ständig stichelte er und stellte sie in Frage. Er tat sich leicht. Er hatte niemanden auf der Welt außer einer Freundin, und die erwartete offenbar keinerlei Rücksicht von ihm.

»Wenn du das nicht möchtest - warum bist du dann noch hier?«, fragte er.

Stille. Und dann scholl plötzlich Gelächter aus der Küche herauf. Grace fragte sich, ob Nick und Charlie vielleicht ihr Gespräch mit anhören konnten und sich da unten totlachten: Grace und ein Zwanzigjähriger! Grace, der in einer heruntergekommenen Pension Sex angeboten wurde!

Nun, ja, in der Tat!, antwortete sie ihnen allen trotzig. Dass sie nur eine Seite von ihr kannten, bedeutete nicht, dass sie keine zweite hatte. Wenn diese auch noch in den Kinderschuhen steckte und sich einstweilen in einer Amateurladendiebin mit Karriereambitionen in der Juristerei oder der Pornofilmindustrie erschöpfte. So charakterisiert klang sie richtig interessant, dachte sie. Oder sie könnte es zumindest sein.

»Also, was ist«, fragte er spöttisch. »Bleibst du oder gehst du?«

»Ich bleibe.«

»Was?« Ihre Entschlossenheit verblüffte ihn sichtlich.

»Ich sagte, ich bleibe. Ich möchte mich auf dich einlassen.«

»Ahhh ... okay ...«

»Korrumpiert werden.«

»Lass uns das nicht zu wörtlich nehmen ...«

Sie setzte ihm den Zeigefinger auf die Brust und stieß ihn rückwärts aufs Bett. »Ich hoffe, du enttäuschst mich nicht.«

Er schaute unsicher zu ihr auf. Das geschah ihm Recht.

Auf der Heimfahrt dachte Julia über geplatzte Rohre nach. Frank hatte sie oft gewarnt, dass ein Rohrbruch ungeahnte Schäden anrichten könnte. Er erzählte ihr von einem Fall, bei dem das Wasser so hoch gestiegen war, dass die Familie sich nur noch durch die Flucht in einem Boot hatte retten können. Julia wusste nichts über Rohrbrüche, außer dass man immer irgendwo das Wasser zudrehen sollte. Am Haupthahn - ja, das war‘s. Dann wurde ihr klar, dass sie keine Ahnung hatte, wo in ihrem Haus sich der Haupthahn befand.

Sie benahm sich albern. Es war doch gar nicht Winter. Zu dieser Jahreszeit musste man keine Rohrbrüche befürchten.

Dann fiel ihr die Drossel ein, die sich vor drei Jahren im Sommer ins Wohnzimmer verirrt hatte, als sie übers Wochenende weg waren. Sie musste panisch herumgeflogen sein, denn sie hatte eine Blutspur auf den Möbeln hinterlassen, bevor sie neben einem Stuhl verendete. Julia war sich plötzlich ganz sicher, dass sie am Tag der Schießerei das Panoramafenster offen gelassen hatte. Was, wenn wieder ein Vogel hineingeflogen war?

Andere Dinge stürmten auf sie ein, furchteinflößende Dinge ... die lockere Dachbodentür, die im Fall eines Sturms heute Nacht vielleicht zuschlagen würde; der optische Bewegungsmelder im Garten, der schon seit Ewigkeiten kaputt war und sich nicht einschalten würde, um sie vor Eindringlingen zu warnen; die unebenen Dielen im Wohnzimmer, über die sie vielleicht im Dunkeln stolpern würde, und dann würde sie im Fallen ihre Krücken verlieren und könnte nicht zum Telefon, um Hilfe zu holen ... »Sie hat das nicht so gemeint, weißt du«, sagte Michael neben ihr.

Julia schrak aus ihren Gedanken hoch. »Wie bitte?«

»Gillian. Sie sagte das nur so in der Hitze des Gefechts.« Menschen wie Gillian sagten niemals etwas nur so in der Hitze des Gefechts. Sie legten sich vorher alles sorgfältig zurecht und hoben es für den richtigen Moment auf. Eiskalt. Ja, das war sie.

»Es ist mir egal, ob sie es so gemeint hat oder nicht. Ich werde jedenfalls gut allein zurechtkommen«, erklärte Julia energisch.

Michael seufzte. »Wie willst du allein zurechtkommen? Du bist frisch operiert, um Himmels willen. Es ist doch ganz selbstverständlich, dass wir uns um dich sorgen.«

»Es tut mir Leid, dass ich allen solche Ungelegenheiten bereite«, erwiderte sie steif.

»Oh, Mammy. Es ist einfach an der Zeit, der Tatsache ins Gesicht zu sehen, dass du keine junge Frau mehr bist.«

Ein Leichenwagen bog aus einer Seitenstraße ein und setzte sich vor sie. Na, wunderbar. Julia versuchte, ihren Blick von dem Sarg abzuwenden. Das könnte sie da drin sein, wenn sie die Tabletten geschluckt hätte. Sie war so weit gegangen, sich ihren eigenen Nachruf auszudenken - er war recht dramatisch ausgefallen -, doch sie hatte sich nicht überwinden können, sich in ihrer Phantasie in einen Sarg zu legen. Diese Vorstellung hatte etwas Unappetitliches. Schließlich war die nächste Station eine tiefe Grube, in der eine Horde hungriger Würmer lauerte. Tod. Er war allgegenwärtig. Wie hatte sie sich so danach sehnen können?

»Wie auch immer«, fuhr Michael fort, »ich sage dir jetzt, wie wir es machen werden.«

Wieder holte Julia ihre Gedanken in die Gegenwart zurück und zu der aktuellen Situation, die immer noch so auszusehen schien, dass sie für alle ein Problem bedeutete. »Ich schaue jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit bei dir herein und auf dem Heimweg ebenfalls, okay? Und wenn möglich auch in der Mittagspause. Ich behaupte dann im Büro einfach, ich müsste zu einer Besprechung oder so.«

»Ich will nicht, dass du dich meinetwegen derart unter Druck setzt.« Sie begann, sich schuldig zu fühlen.

»Wir werden eine Haushaltshilfe für dich besorgen. Ich kümmere mich gleich nachher darum, wenn ich dich abgesetzt habe.«

»Das ist nicht nötig. Wenn ich jemanden brauche, kann ich mir selbst jemanden suchen.«

»Wie willst du das denn machen? Du gehst an Krücken. Du kommst nicht einmal zum Supermarkt, um dort einen Zettel ans schwarze Brett zu hängen. Und Auto fahren kannst du auch nicht.«

Wieder stieg dieses schreckliche Gefühl drohenden Unheils in ihr auf, und sie wollte, dass er aufhörte, ihr alles vorzuhalten, was sie nicht mehr tun konnte, und alle Gefahren, die auf verletzte, allein lebende, ältere Frauen lauerten.

Plötzlich fiel ihr auf, dass sie die Hauptstraße von Hackettstown entlangfuhren. In einer Minute wäre sie zu Hause. »Ich will niemand Fremden in meinem Haus«, erklärte sie. Vor ihrem geistigen Auge erschien wieder der tote Vogel, auf dem blau schillernde Schmeißfliegen herumkrochen.

Michael bog in die Bridge Street ein. »Du willst niemanden bei dir haben, und du willst nicht bei uns wohnen«, sagte Michael in gereiztem Ton. »Was willst du, Mammy? Wir haben alles versucht, um es dir recht zu machen, aber du bist mit nichts einverstanden.«

Ihr Haus kam in Sicht. F2s sah alt und hinfällig aus und ungeliebt.

»Ich habe niemanden gebeten, es mir recht zu machen«, antwortete sie. Der zerbrochene Fensterladen im ersten Stock wirkte plötzlich ein wenig bedrohlich, und sie hatte Angst, dass sie in Tränen ausbrechen könnte. Michael lenkte den Wagen mit Schwung in die Einfahrt und schaltete die Zündung aus. »Es ist einfach lachhaft!«, erregte er sich. »Du kannst unmöglich allein leben, solange du auf die Krücken angewiesen bist. Bleib wenigstens bei uns, bis dein Fuß geheilt ist. Dann kannst du immer noch hierher zurück.«

»Ich habe andere Pläne«, eröffnete sie ihrem Sohn.

»Was für Pläne?« Oje, jetzt saß sie in der Falle. »Redest du von dem Burschen da drüben? Diesem Frank? Den du erschießen wolltest? Der soll sich um dich kümmern?«

Julia ballte hilflos die Fäuste. »Nein ...«

»Wer dann?«

Sie wurde von einer Zigarettenkippe gerettet, die auf der Kühlerhaube landete. Sie kokelte einen Moment fröhlich auf dem Lack und verlosch dann mit einer kleinen Rauchwolke.

»Wo kam die denn her, zum Teufel?«, fragte Michael verblüfft.

Sie ließen den Blick wandern, um den Übeltäter aufzuspüren, und entdeckten, dass das Panoramafenster sperrangelweit offen stand.

»Einbrecher«, stieß Michael hervor. Er wurde blass.

Doch gleich darauf schwappte ein Gelächterschwall aus dem Haus ins Freie. Einbrecher mit Humor? Julia hielt den Atem an. Zu ihrem Erstaunen verspürte sie nicht die geringste Angst.

Jetzt kam noch ein anderes Geräusch dazu. Musik. »Sie lassen deinen alten Plattenspieler laufen, Mammy!«, ereiferte sich Michael. »Die trauen sich was!«

»Elvis«, murmelte Julia. Sie fühlte sich auf einmal jahrzehnteweit zurückversetzt zu den Partys, die sie und JJ zu veranstalten pflegten. »Heartbreak Hotel«. Das hatte sie seit einer Ewigkeit nicht gehört.

»Ich glaube, das sind eher Hausbesetzer als Einbrecher«, sagte Michael neben ihr.

»Ja, ja, sei still!« Sie wünschte, jemand da drinnen würde die Musik lauter machen.

Plötzlich öffnete sich die Eingangstür und eine nach Flittchen aussehende blonde Frau kam aus Julias Haus. Sie hielt eine Flasche Apfelwein in einem Arm und hatte den anderen um einen hoch gewachsenen, schlaksigen Burschen in engen Nappalederhosen und mit ungepflegter Mähne gelegt. Er trug eine Gitarre über der Schulter. »Daddys Gitarre!«, stammelte Michael entsetzt. »Sie haben sie gestohlen!«

»Ich glaube, sie leihen sie sich nur aus.« Julia schaute dem Paar nach, das über den Rasen schlenderte. Der Mann begann eine Melodie zu spielen. Er machte seine Sache gar nicht schlecht. Die Frau drapierte sich dekorativ auf dem Rasen.

»Ich werde die Polizei rufen«, erklärte Michael grimmig. »Sie werden die beiden da auf der Stelle verhaften.«

Doch da kam noch jemand aus dem Haus: ein Junge mit wallenden Haaren, der ein Snickers aß.

»Gavin!«, rief die Frau auf dem Rasen und winkte ihm zu.

Michael rutschte auf seinem Sitz nach unten. »Vielleicht ist eine ganze Horde da drin! Es wäre zu gefährlich, denen allein gegenüberzutreten. Wir fahren jetzt zur Polizei!« Doch als der Lederhosentyp sich eine Zigarette anzündete, konnte Michael sich nicht zurückhalten. Wütend drückte er auf die Hupe, kurbelte das Fenster herunter und rief hinüber: »Du hast den Lack auf meiner Motorhaube verbrannt, du Strolch!«

»Tut mir Leid, Mann.«

Michaels Augen drohten aus den Höhlen zu springen. Er hupte noch einmal wütend und streckte dann die Hand nach dem Zündschlüssel aus. »Warte, Michael«, bat Julia.

Offenbar von dem Tumult angelockt, kam ein weiterer junger Mann aus dem Haus. Er sah ein bisschen aus wie die Rapper auf MTV mit seinen Dreadlocks, und er war halb nackt. Mit zusammengekniffenen Augen schaute er zu ihnen herüber.

Dann erschien eine Frau hinter ihm. Sie strich sich die Haare und ihre Kleidung glatt, und es lag ein Leuchten auf ihrem Gesicht. Vielleicht hatten die beiden ebenfalls getrunken.

Die Frau sagte etwas zu dem jungen Mann und kam dann den Weg herunter. Beim Wagen angelangt, schirmte sie ihre Augen gegen die Sonne ab und schaute durch das offene Fahrerfenster herein.

»Mrs Carr?«, sagte sie mit kleiner Stimme. »Ich dachte, Sie kämen erst morgen nach Hause.« Michael war baff. Julia ebenso. »Du ... du kennst diese Person?«, fragte er seine Mutter.

Sie hatte sie noch nie im Leben gesehen. Oder? Als sie der Frau in die Augen sah, erinnerte sie sich plötzlich, woher sie sie kannte: aus ihrer Küche, wo sie sie in den Fuß geschossen hatte! Die Frau, der sie ihre Qualen verdankte, hatte sich in ihrem Haus breit gemacht und veranstaltete auch noch eine wilde Party!

Ein Wort von Julia, und die Polizei würde zum zweiten Mal in einer Woche in der Bridge Road erscheinen. Die Frau schien Julias Gedanken zu lesen, denn in ihrem Blick lag die stumme Bitte, nichts zu unternehmen. Nun, wenn Julia Grace Tynan retten sollte, dann wäre es nur recht und billig, wenn Grace Tynan sie rettete.

»Natürlich kenne ich sie«, antwortete Julia ihrem Sohn. »Das ist Grace - die Frau, die sich um mich kümmern wird. Ist es nicht so, Grace?«

Für einen Sekundenbruchteil schätzten die beiden Frauen einander mit einem Blick ab. Dann bestätigte Grace: »Ja, so ist es.«

»Soll das heißen, dass das schon seit längerem vereinbart ist?«, fragte Michael ungläubig.

»Nein, wir sind kurzfristig übereingekommen«, antwortete Grace leichthin. Julia war voller Bewunderung. Sie würden gut miteinander auskommen.

»Du kannst jetzt nach Hause fahren, Michael«, sagte Julia und stieß die Beifahrertür auf. »Und richte Gillian aus, dass ich meine Meinung nicht ändern werde.«

Grace war augenblicklich zur Stelle, um Julia aus dem Wagen zu helfen, die Krücken in Position zu bringen und die Reisetasche vom Rücksitz zu holen. Aber ganz so leicht würde sie nicht davonkommen. Julia beugte sich, auf die Krücken gestützt, zu ihr herüber und sagte so leise, dass nur Grace es hören konnte: »Sie werden mir einiges erklären müssen.«